Chronische Phase

31. Ununterbrochener Alkoholeinfluss

Die zunehmend beherrschende Rolle des Alkohols, die sich schon im morgendlichen Trinken zeigt, lässt den Vorsatz des Alkoholikers, weniger zu trinken immer öfter zusammenbrechen, so dass es vorkommt, dass er über mehrere Tage hinweg ständig unter Alkoholeinfluss steht. Dabei kann es passieren, dass er tagsüber deutliche Anzeichen von Trunkenheit zeigt, die er nicht mehr überspielen kann.

Dieses Symptom setzt voraus, dass der Alkoholiker bei seinem morgendlichen Trinken bereits auf den Restalkohol des Vortages erneut Alkohol trinkt.

32. Zusammenbruch individueller Wertvorstellungen

Der sich immer massiver und zwanghafter durchsetzende Kontrollverlust in Verbindung mit der zunehmenden Gleichgültigkeit und Resignation des Alkoholikers führen dazu, dass auch wesentliche eigene Wertvorstellungen nicht mehr befolgt werden können. D. h. auch, dass der Betroffene ggf. bereit ist, sich im Notfall über alle gesellschaftlichen Regeln und Vorstellungen hinweg zu setzen, um sich das Trinken zu ermöglichen.

So kann es zum Beispiel vorkommen, dass er Besitz- und Eigentumsverhältnisse außer Acht lässt, seine Körperpflege in auffälliger Weise vernachlässigt oder sich völlig über berufliche und private Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten hinwegsetzt.

33. Beeinträchtigung des Denkens

Das Denkvermögen des Alkoholikers weist inzwischen erhebliche Ausfallerscheinungen auf. Oft ist er nicht mehr oder nur noch begrenzt in der Lage, seine Situation realitätsgerecht oder mit der ausreichenden Kritikfähigkeit einzuschätzen. Oft ist er auch nicht mehr zu folgerichtigen Überlegungen imstande, schwierige Zusammenhänge können nur noch mühsam oder gar nicht erfasst werden und/oder die Konzentrationsfähigkeit ist massiv beeinträchtigt, so dass es z. B. oft schwerfällt, längere Texte zu lesen und zu verstehen.

Auch kann es im Zusammenhang damit zu auffälligen beruflichen und privaten Fehlentscheidungen kommen. Ebenso ist es aufgrund der Beeinträchtigung des Denkens bisweilen auch schwer, neue Sichtweisen und Gedanken in das eigene Denksystem aufzunehmen. Nicht selten ist die gesamte intellektuelle Leistungsfähigkeit jetzt auch in Abstizenzphasen deutlich beeinträchtigt.

34. Psychische Entzugserscheinungen

Mit dem Absinken des Alkoholpegels treten bei dem Betroffenen unbestimmbare, massive Ängste und ausgeprägte innere Unruhe auf. Er fühlt sich ständig nervös. Diesen Zustand versucht er mit Alkohol abzuwehren bzw. zu überspielen, was ihm jedoch auf Dauer nur gelingen kann, wenn er seinen Alkoholspiegel ständig auf einer bestimmten Höhe hält.

35. Erhebliche körperliche Entzugserscheinungen

Mit dem Absinken des Alkoholspiegels können jetzt beim Alkoholiker auch massive körperliche Entzugserscheinungen wie anhaltendes Zittern, besonders der Hände, massive Schweißausbrüche, Herzrasen, Schwindel, Erbrechen oder Würgen auftreten. Besonders ausgeprägt sind diese Symptome häufig morgens, wenn der Betroffene in der Nacht seinen Alkoholspielge nicht ergänzt hat.
Das verräterische Zittern erlebt der Alkoholiker aber auch nicht selten in Situationen, in denen er sich beobachtet fühlt. Auch diese Zustände kann der Alkoholiker nur noch mit erneutem Trinken unter Kontrolle bringen.

36. Veränderungen der Trinkgesellschaft

Ähnlich wie bei dem unter 32 beschriebenen Zusammenbruch individueller Wertvorstellungen kann es jetzt auch vorkommen, dass es dem Alkoholiker bei der Wahl seiner Trinkgesellscfhaft nur noch darauf ankommt, sich das Weitertrinken in Gesellschaft zu sichern. So kann es dazu kommen, dass er jetzt auch mit Personen trinkt, mit denen er sonst kaum Kontakt suchen oder den Kontakt sogar unbedingt vermeiden würde. Oft schließt er sich auch einem Personenkreis an, dem er sich deutlich überlegen fühlt und verfährt hier nach dem Motto: "Unter den Blinden ist der Einäugige König."

37. Zuflucht zu alkoholhaltigen Ersatzstoffen

Der Drang, weiter zu trinken, um Entzugserscheinungen zu vermeiden, kann jetzt so massiv werden, dass der Alkoholiker, falls kein anderer Alkoholvorrat zugänglich ist, zu alkoholhaltigen Ersatzstoffen greift, wie z. B. Kölnisch Wasser oder Parfüm, alkoholhaltige Medizin, Melissengeist, Spiritus, Franzbranntwein o. ä.

38. Massives Entzugssyndrom

Die unter Punkt 35 beschriebene Entzugssymptomatik kann so ausgeprägt sein, dass es zu schweren Kreislaufstörungen, Blutdruckentgleisungen, Herzrhythmusstörungen und anderen körperlichen Beschwerden kommt, die unbedingt ärztlicher Hilfe, ggf. auch eine Krankenhauseinweisung erforderlich machen. Komplizierend kann auch ein unter Punkt 41 erwähnter Krampfanfall hinzukommen. Kommen weitere Entzugssymptome hinzu, wie z. B. ausgeprägte Schreckhaftigkeit, Wahnvorstellungen und/oder Halluzinationen, spricht man von einem Delir (Punkt 45).

39. Folgeerkrankungen

Schwerwiegende internistische oder neurologische Folgeerkrankungen des Alkoholikers machen ärztliche, ambulante oder stationäre Behandlungen erforderlich. Es handelt sich hier auf internistischem Gebiet hauptsächlich um mehr oder minder fortgeschrittene Lebererkrankungen, Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse und des Verdauungssystems, massive Stoffwechsel- und Elektrolytstörungen (Fettstoffwechwselstörungen, Gicht, Diabetes mellitus, Muskelkrämpfe), Bluthochdruck, schlecht heilende Hauterkrankungen, Blutbildveränderungen und Herz- und Lungenerkrankungen.

Neurologischerseits kommt es infolge der chronischen Alkoholvergiftung zu Schädigungen des peripheren, d. h. motorischen und sensiblen Nervensystems, der sogenannten Polyneuropathie. Sie äußert sich im Frühstadium in Kribbeln und Taubheitsgefühl sowie Kraftminderung oder Lähmung, zunächst im Bereich der Hände und Füße. Es kommt z. B. zu brennenden Füßen (besonders nachts) und Gangunsicherheit oder Störungen im Bereich der Hände z. B. beim Greifen. Im weiteren Verlauf der Erkrankung steigt die Polyneuropathie immer mehr auf, so dass dann auch immer mehr die Arme und Beine, später der ganze Körper betroffen ist. Es kommt zu immer stärkeren Taubheitsgefühlen, Kribbelgefühlen, Schmerzen oder Lähmungen.
Gleichzeitig kommt es durch Beeinträchtigung des sog. vegetativen Nervensystems zu Völlegefühl, Verdauungsstörungen, Appetitlosigkeit, morgendlichem Erbrechen, Herzrasen und Durchblutungsstörungen an Händen und Füßen. Auch vermehrte Schweißausbrüche sind als Zeichen des gestörten vegetativen Nervensystems zu sehen.

Schädigungen des zentralen Nervensystems zeigen sich als irreparable Zerstörungen der Hirnzellen mit der Folge von erheblichen Störungen der Merk- und Konzentrationsfähigkeit, sowie der Kritikfähigkeit und des Auffassungsvermögens (in ausgeprägtester Form: Korsakow-Syndrom).
Im Gegensatz zu vielen Organen ist das Nervensystem nicht in der Lage, sich zu erneuern.

40. Trinken wird Besessenheit

Wenn der Alkoholiker in diesem Krankheitsstadium mit dem Trinken beginnt, kann es ihm passieren, dass er den Drang zum Weitertrinken als so unwiderstehbar erlebt, dass er auch massivste negative Folgen in Kauf nimmt und /oder extrem unverhältnismäßige Risiken bei seinem Weitertrinken eingeht: So nimmt er z. B. trotz bereits bestehender beruflicher Probleme in Kauf, gar nicht oder mit "Fahne" am Arbeitsplatz zu erscheinen oder am Arbeitsplatz weiter zu trinken. Der Drang zum Weitertrinken steuert sein gesamtes Verhalten, so dass sein Weitertrinken ohne Rücksicht auf Verluste und ohne jede Vernunft erfolgt.

41. Entzugsbedingte Krampfanfälle

Wenn der Alkoholiker seinem Körper in dieser Entwicklungsphase der Suchtkrankheit nicht ausreichend Alkohol zuführt bzw. ihm den Alkohol gänzlich entzieht, kann es zu entzugsbedingten Krampfanfällen kommen. Der Betroffene verliert - meist ohne Vorwarnung - plötzlich das Bewußtsein, stürzt und verfällt zunächst in eine heftige Verkrampfung der Muskulatur, danach in rhythmische Bewegungsabläufe. Eine Erinnerung an dieses Ereignis besteht in aller Regel nihct. Krampfanfälle können zu jeder Tageszeit - auch im Schlaf - auftreten. Solche Krampfanfälle sind durch den damit verbundenen Atemstillstand lebensbedrohlich.

Bei stationären Entgiftungsbehandlungen kann mit Hilfe von Medikamenten die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Krampfanfällen deutlich gesenkt werden. In einigen Fälen kann sich auch ein dauerhaftes Anfallsleiden entwickeln (alkoholische Epilepsie).

42. Selbstmordgedanken bzw. -versuche

Auf der Basis häufig sehr massiver Schuldgefühle, Selbstvorwürfe und ausgeprägter Minderwertigkeitsgefühle entwickelt sich bei dem Alkoholiker oft das nunmehr klare Bewußtsein, dass weiteres Trinken seine Lebenssituation nur noch verschlimmern kann. Gleichzeitig drängen ihn die Angst vor Entzugserscheinungen sowie die inzwischen verschärft bestehende Befürchtung, seinen Alltag ohne Alkohol nicht bewältigen zu können, dazu, weiter zu trinken. Hilflos in seinem Spannungsfeld gefangen, kann er nun in einen so verzweifelten Gemütszustand geraten, dass er ernsthaft Überlegungen anstellt, sich das Leben zu nehmen bzw. dies tatsächlich versucht.

43. Abfall der Alkoholtoleranz

Durch die massive körperliche Schädigung, insbesondere der Leber, kann es dazu kommen, dass die bis dahin stark erhöhte Alkoholtoleranz plötzlich deutlich zurückfällt. Dieser sog. Toleranzknick zeigt sich darin, dass sich der Betroffene bereits nach der Einnahme geringer Mengen Alkohols betrunken fühlt. Da diese Wirkung jedoch im allgemeinen nicht lange anhält, trinkt er jetzt in noch kürzeren Abständen noch hektischer und zwanghafter.

44. Das Erklärsystem versagt

Das unter Punkt 9 beschriebene Verhalten des Alkoholikers, rationale Erklärungen und Entschuldigungen für sein Trinkverhalten heranzuziehen, wird spätestens in der chronischen Phase durch das eigene Verhalten so häufig und unbarmherzig der Wirklichkeit gegenüber gestellt, dass auch der Betroffene selbst nicht mehr daran glauben kann. Er muss zur Kenntnis nehmen, dass sein Trinken sich weitgehend verselbständigt hat und somit zu seinem Hauptproblem geworden ist. Dieses Versagen des Erklärsystems stellt die Voraussetzung dafür dar, sich ernsthaft um Hilfe und Unterstützung zu bemühen (Selbsthilfegruppen, Beratungsstelle, Therapie).

45. Alkoholdelirium

Als massivste Entzugserscheinung kann ein Delirium tremens auftreten. Eingeleitet wird es oft mit Schlaf-, Magen-, Darmstörungen und erheblicher motorischer Unruhe, ausgeprägter Schreckhaftigkeit, grobschlägigem Händezittern, ausgeprägtem Schwitzen und Herzrasen. Es kommt zum Auftreten meist optischer, selten auch akustischer Halluzinationen, d. h. es wird etwas gehört oder gesehen, was nicht existiert. Die Unruhe kann sich bis zur Getriebenheit steigern. Es bestehen wahnhafte Vorstellungen, die Kritikfähigkeit sowie die Orientierung zu Zeit, Ort und Situation sind eingeschränkt oder aufgehoben. Es besteht eine Steigerung der Beeinflussbarkeit. Das Bewußtsein ist nicht immer getrübt.
Zusätzlich bestehen schwere Entgleisungen des Herz-Kreislaufsystems mit stark erhöhtem Blutdruck, hoher Herzfrequenz und Atemstörungen. Ohne Behandlung besteht die hohe Gefahr eines tödlichen Verlaufs.